Ismail in Brasilien

Viele Erlebnisse zum ersten Mal

Ich lebe in Centro Vila Velha, also genau im Zentrum des Geschehens – von dem man allerdings wenig mitbekommt. Unser Haus ist nicht besonders groß, aber auch nicht klein. Bis vor Kurzem habe ich mir das Zimmer mit meinem älteren Gastbruder geteilt, aber er ist nun als Austauschschüler in Frankreich. Jetzt teile ich mir das Zimmer mit André. Das stört mich nicht, da ich es aus Deutschland bereits gewohnt bin.

Meine Gasteltern sind beide Ärzte und haben nur wenig Zeit für gemeinsame Familienaktivitäten.

Als Austauschschüler an der Schule

Anfang August fuhr ich das erste Mal mit dem Bus zur Schule. Kurz bevor ich den Klassenraum betrat, war mir richtig übel – so nervös war ich! Als ich dann im Klassenraum stand, wurde ich angestarrt, ohne wirklich zu verstehen, was über mich gesagt wurde. Dann erfuhr jeder, dass ich ein Austauschschüler aus Deutschland bin, und alle waren total aufgeregt, mit mir zu sprechen und mich ohne Ende auszufragen.

Die Kommunikation war extrem schwierig, weil niemand Englisch sprach. Die nächsten Tage waren dann ziemlich durchschnittlich. Mein Schultag besteht aus Schlafen und Tests schreiben. In Sport, Englisch und Kunst bin ich zwar überragend, aber nicht in Chemie oder so, weil das nochmal viel anspruchsvoller auf Portugiesisch ist. Ein typischer Spruch unter Austauschschülern ist ja: „Ich bin nicht hier für Hausaufgaben, sondern für die Erfahrung.“ Ein wahrer Satz.

Die meiste Zeit verbringe ich mit Stef, einem Austauschschüler aus Belgien. Am Wochenende treffen wir uns abends mit unseren brasilianischen Freunden.

Im September habe ich meine Gastfamilie gewechselt. Eine Woche später hatte mein neuer Gastbruder Geburtstag, und wir feierten ihn bei einem Churrasco (Barbecue) an einem Ort namens „Nelmo“. Ich kann versprechen: Dort bekommt man das beste Fleisch und den köstlichsten Käse! Das Suchtpotenzial steigt mit jedem Bissen. Ein brasilianisches Churrasco besteht aus Fleisch, Käse und Brot – alles auf einem Holzkohlegrill perfekt zubereitet.

In der darauffolgenden Woche wechselte ich an meine neue Partnerschule. Diese Schule hat mich von Anfang an beeindruckt – viele Schüler und so offene Menschen, wie man sie in Deutschland wohl kaum treffen würde. Sobald man als Deutscher erkannt wird, ist man „DIE“ Attraktion für Wochen. Ich weiß nicht genau, warum, aber es macht ziemlich Spaß, über Deutschland zu erzählen.

Mittlerweile habe ich auch meine Schuluniform, die aus einem T-Shirt besteht.

Am 30. Oktober war der „Rosa Oktober“, an dem man den ganzen Tag in Pink herumläuft. Für diesen einen Tag war die einheitliche Schuluniform vergessen – stattdessen galt: so pink wie möglich! Natürlich habe ich mich angepasst und war von Kopf bis Fuß in Pink gekleidet.

Dieser Tag war jedoch nicht nur zum Spaß gedacht, sondern ihm liegt ein ernster Hintergrund zugrunde: Er ist den Menschen gewidmet, die an Krebs erkrankt sind. Man soll an diejenigen denken, die mit dieser Krankheit leben müssen.

Ein großes Highlight: eine Reise mit anderen Austauschschülern

Mit ziemlicher Sicherheit kann ich behaupten, dass das der aufregenste Teil meines Jahres hier war – meine Reise nach Pantanal.…

Wir fuhren mit dem Bus in einen Aquapark, wo wir Mittag hatten. Daraufhin ging es mit Neoprenanzügen in einen naturgeschützten Wasserpark. Wir haben geschnorchelt mit einer Sicht, die nicht vorstellbar ist. Nach einem Schnorchel-Rundgang sind wir am nächsten Ufer weiter in eine kleine Quelle, wo es einen Sprungturm aus Holz gab. Es war so: Man rutscht eine Kordel entlang und im richtigen Moment muss man loslassen und abspringen. Meine Sprünge waren mit Sicherheit große Reinfälle! Nachdem alle Gruppen das Programm durchlaufen hatten, ging es zurück ins Hotel zum Entspannen und in den Pool…

Erschöpft, aber auch befriedigt, kamen wir am Hotel an, wo es eine Party/Churrasco geben sollte. Es war wirklich überragend, auf gut Deutsch gesagt GEIL. Ein Mexikaner, dessen Name ich bereits vergessen habe, hatte Geburtstag und es gab einen Special-Auftritt von einer Funk-Tänzerin. Der Abend verlief ausgezeichnet und jeder hatte Spaß…

.. Meine Gruppe Alligator hatte zuerst auf dem Plan „SAFARI“. Die Safari ging zwei Stunden, wo wir Affen und andere verschiedene Tierarten gesehen haben. Mein Traum wurde wahr, denn es ging zum Horsebackriding. Ich bin ja vorher noch nie geritten. Ich hab’s also sehr genossen. Ich gab meinem Pferd den Namen „Fridolin“. Ein einfach befreiender und ruhiger Tag…

Veränderungen und neue Überzeugungen

Ich habe mich körperlich um einiges verändert, da ich jetzt stämmiger und größer bin. Ich würde sagen, dass sich meine Menschenkenntnis gesteigert hat und ich die Welt, Menschen usw. in einem ganz anderen Licht sehe. Außerdem mache ich mir mehr Gedanken über unsere Sozialstruktur und das Leben im eigenen Land. Ich bin einfach viel weltoffener und begeistere mich für mehr unterschiedliche Kulturen, als ich es vorher tat. Ich habe gelernt, dass die Welt viel kleiner ist, als wir in Wirklichkeit denken. Mittlerweile wurden die Mauern zwischen Kulturen abgerissen und die Welt wächst langsam zusammen. Ich weiß jetzt, dass ich nicht isoliert in einer einseitigen Gesellschaft leben will, sondern mich entfalten und mehr über das „Fremde“ herausfinden und lernen will. Es liegt an uns! Nutzen wir unsere natürliche menschliche Veranlagung von Neugier, um mehr über uns selbst und die Welt herauszufinden, oder unterwerfen wir uns und scheitern an unserer Angst? (Ich würde liebend gerne Ihre Antwort dazu hören.)

Unterschiede

Als persönliche Unterschiede in meinem Leben in Brasilien und Deutschland kann ich sagen, dass ich mich einfach wohler und akzeptierter gefühlt habe. Die Menschen um mich herum waren toleranter und offener, als ich es in Deutschland erwartet habe. Meine Schule war viel lockerer und entspannter als hier. Jedoch war es gefährlicher auf den Straßen. Man musste stets einen Blick nach hinten werfen, was man hier zu 95 % nicht muss. Eine wahre Antwort auf die Frage habe ich wahrscheinlich nicht, sonst entwickelt sich alles zu einem Konkurrenzkampf, wer besser oder schlechter ist.

Nur gewonnen

Verloren habe ich erstmal gar nichts. Nur gewonnen. Gewonnen habe ich die Menschenkenntnis und die ganzen Erfahrungen, die mich 10 Monate lang begleitet haben. Freunde und Familie, mit denen man ein Leben lang Verbundenheit teilt. Das Materielle ist völlig unwichtig, einfach nur das, was ich erlebt und durchgemacht habe, ist mehr wert als alles auf der Welt.

Zurück nach Deutschland

Die ersten Wochen in Deutschland waren, als ob ich nie weg war. Nichts hat sich verändert. Der normale Alltag war wieder eingekehrt. Ich halte weiterhin Kontakt zu Freunden und Familie in Brasilien und bin da, wo ich hingehöre. Ich wurde unnötigerweise von der Schule dazu verdonnert, in der letzten Woche vor den Ferien am Unterricht teilzunehmen, aber das hat mich nicht weiter gestört. Was nur ganz stark auffiel, war, dass ich nicht mehr im Unterricht nach Lust und Laune brüllen, singen oder reden durfte. Daran musste ich mich erstmal gewöhnen. Sonst hat alles mittlerweile Normalität angenommen.

Meine Zukunft steht recht offen. Ich lasse mich gerne überraschen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass mein Auslandsjahr mir neue Türen im Leben öffnen wird. Als neuer Mensch blicke ich positiv in die Zukunft… Ich verabschiede mich mit einem „Até mais!“

Cornelius Nohl